«Viele möchten sich einen Hörverlust nicht eingestehen»
Fast eineinhalb Millionen Menschen in der Schweiz sind von einer Schwerhörigkeit betroffen. Pro Audito bietet diesen eine Anlaufstelle. Warum Hörgeräte trotz der hohen Zahl an Betroffenen auf (zu) wenig Resonanz stossen und wieso Gehörprobleme oft ignoriert werden, erklärt Heike Zimmermann, Co-Geschäftsleiterin der Non-Profit-Organisation, im Interview.
21.01.2025 | von Fabian Reichle
Gibt es einen typischen Ursprung für Schwerhörigkeit?
Die häufigste Art von Schwerhörigkeit ist die sogenannte Innenohrschwerhörigkeit. Diese entsteht, wenn Haarzellen im Ohr absterben. Das geschieht einerseits durch den natürlichen Alterungsprozess, andererseits durch Lärmexpositionen. Eine Schwerhörigkeit kann jedoch auch beispielsweise durch einen Infekt entstehen.
Welche alltäglichen Lärmexpositionen schaden dem Gehör besonders?
Bei lauten Umgebungen denken viele an Baustellen oder Konzerte. Dort entstehen Hörschäden jedoch zum Glück nicht mehr so häufig, weil an solchen Orten durch Institutionen wie die Suva wirksame Präventionsmassnahmen ergriffen wurden. Die weitaus grössere Gefahr geht von mittellauten Umgebungen aus – allem voran dem Musikhören via Kopfhörern. Das betrifft hauptsächlich junge Menschen. Es gibt Prognosen, dass bis 2050 jede vierte Person von Schwerhörigkeit betroffen sein wird.
Und wie viele sind es heute?
Schätzungen zufolge jede siebte Person.
Das sind bereits enorm viele. Sind das alles Menschen, die gar nichts mehr hören?
Schwerhörigkeit bedeutet nicht per se, dass man überhaupt nichts mehr hört. Die Weltgesundheitsorganisation definiert eine solche ab einem Verlust von 20 Dezibel, in der Schweiz wird in Prozent gemessen. So kommen wir letztendlich auf 1,3 Millionen Betroffene – oder eben jede siebte Person – in der Schweiz.
SWICA Benevita: Spenden für Pro Audito
Pro Audito hat mit Benevita, der Gesundheitsapp von SWICA, zusammengespannt. Mit Ihren Community-Coins aus der App helfen Sie der Non-Profit-Organisation dabei, Betroffene im Alltag zu unterstützen und den Zugang zu Hörgeräten zu verbessern. Weitere Informationen zum Spendenprojekt finden Sie auf unserer Webseite.
Wie erkennt man einen Hörverlust?
Ein Verlust des Gehörs kommt schleichend, dadurch fällt er vielen gar nicht auf. Man hört ein bisschen weniger und gewöhnt sich daran. Anschliessend nimmt das Hörvermögen weiter ab, woran man sich ebenso wieder gewöhnt. Es ist eine Abwärtsspirale.
Gibt es Empfehlungen was zu tun ist, wenn man einen Hörverlust bei sich selbst bemerkt?
Die Frühvorsorge ist wichtig. Je früher sich das Gehirn und das Gehör und an ein Hörgerät gewöhnen können, desto besser. Es gibt auch einfache Hörtests, die man online machen kann, zum Beispiel auf der Webseite von Pro Audito. Damit erhält man eine erste Einschätzung. Fällt diese kritisch aus, sollte eine Ärztin oder ein Arzt für weitere Untersuchungen aufgesucht werden.
Und dennoch ist eine so grosse Anzahl an Menschen betroffen…
Leider möchten sich immer noch viele Menschen einen Hörverlust nicht eingestehen. Da schwingt viel falsche Scham mit. Schwerhörigkeit wird leider noch immer mit Altsein gleichgestellt Übrigens wird auch das Tragen eines Hörgeräts oft als solche wahrgenommen.
Warum?
Gäbe es eine Studie dazu, würde mich diese natürlich sehr interessieren. Eine Brille, die Sehbeschwerden korrigiert, ist in unserer Gesellschaft normal, ein Hörgerät hingegen wird noch immer als störend empfunden. Ersteres ist zu einem Accessoire, das durchaus stilvoll sein kann, geworden. Hörgeräte sehen in den Köpfen vieler nach wie vor wie diese klobigen, hautfarbenen Dinger, die man sich hinters Ohr klemmt, aus. Da hat sich jedoch enorm viel getan. Die Entwicklung geht auch technisch in eine spannende Richtung. Ich denke da zum Beispiel an Musik-Ohrstöpsel, die integrierte Hörunterstützungen haben werden. Solche Fortschritte geben Hoffnung.
«Eine Brille, die Sehbeschwerden korrigiert, ist in unserer Gesellschaft normal, ein Hörgerät hingegen wird noch immer als störend empfunden.»
Heike Zimmermann, Co-Geschäftsleiterin von Pro Audito
Eine Brille ist auch technisch weniger komplex. Wie finden Betroffene ein passendes Hörgerät?
Dafür braucht es Abklärungen beim HNO und Akustiker. Auch die Feinjustierung und Angewöhnungszeit dauert länger als beispielsweise bei einer Brille. Hinzu kommen die Kosten.
Wieviel bezahlen Betroffene für ihre Hörgeräte?
Hörgeräte sind teuer. Im Schnitt bezahlen Betroffene rund 3‘300 Franken selbst – die Kostenbeteiligung durch Sozialversicherungen sind dabei schon miteinberechnet. Für viele Menschen ist das ein heftiger Budgetposten und mitunter ein triftiger Grund, sich kein Hörgerät anzuschaffen. Aber es geht auch günstiger. Das ist beispielsweise ein Gebiet, auf dem wir bei Pro Audito tätig sind. Wir geben Tipps, wie man Kosten sparen kann.
Dabei würde ein Hörgerät nicht nur den Gehörverlust an und für sich beheben: Welche Symptome bringt eine nichtbehandelte Schwerhörigkeit mit sich?
Ein Gehörverlust kann stark auf die Psyche wirken. Man versteht Gesagtes nicht mehr richtig, was zu Missverständnissen und Ärger führt. Die Lust, sich an Gesprächen zu beteiligen, sinkt; man isoliert sich. Darunter leiden soziale Kontakte, die Arbeit und vieles mehr. Das kann so weit gehen, dass Depressionen entstehen können. Aber auch auf der physischen Ebene kann es schlimm werden: Es ist erwiesen, dass zu wenig Höreindrücke Demenz fördern. Nochmals, es ist elementar, dass man vorbeugt und sich im Fall der Fälle frühzeitig versorgt.
Nicht mehr richtig verstehen – gibt es auch eine Verantwortung des Gegenübers, das (noch) gut hört?
Auf jeden Fall. Das merken wir bei Pro Audito insofern, als dass wir viele Beratungsgespräche mit Angehörigen führen, wie sie Betroffene für einen Hörtest respektive ein Hörgerät motivieren können. Die Verantwortung muss aber noch mehr einen gesellschaftlich-politischen Charakter bekommen.
Können Sie das genauer ausführen?
Menschen mit Schwerhörigkeit brauchen trotz Hörgerät unter Umständen weitere Unterstützung, da sie sonst nicht die gleichen Chancen haben. Ein Beispiel aus der Berufspraxis: Ohne das Schriftdolmetschen wird Menschen mit Schwerhörigkeit allenfalls eine Karrierechance verbaut. Schriftdolmetschende sind nötig, um beispielsweise an komplexen Sitzungen alles Gesagte zu verschriftlichen. Solche Situationen müssen einerseits von der Gesellschaft unterstützt werden, andererseits muss man solche Massnahmen finanzieren.
So weit sind wir jedoch noch nicht, auch wenn wir seit 2004 das Behindertengleichstellungsgesetz haben. In der Schweiz leben rund 1,6 Millionen Menschen mit einer Behinderung. Eine inklusive Gesellschaft kann nur mit Akzeptanz und anfänglichen Kosten zur Realität werden. Erst dann können sich Betroffene mit Hörproblemen ein sinnbildliches Gehör verschaffen.
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