«Es braucht eine Korrektur des Bildes, das wir von Lernenden haben»
Die psychische Gesundheit bei Jugendlichen hat in den letzten Jahren deutlich an öffentlicher Aufmerksamkeit gewonnen. Eine von der SWICA-Tochter WorkMed initiierte Umfrage unter 45‘000 Lernenden zeigt ein vielschichtiges Bild zum Erleben der Lehre und zum psychischen Befinden. Barbara Schmocker, Psychologin und Co-Autorin der Studie, erzählt im Interview, warum die Lehre eine Chance für die psychische Gesundheit sein kann und wie wichtig frühzeitige Unterstützung bei psychischen Belastungen ist.
Berufswahl, Lehrbeginn, Ablösung vom Elternhaus und Identitätsfindung: Der Übergang von der Schulzeit in die Arbeitswelt ist eine von Umbrüchen geprägte Phase, in der Jugendliche wichtige Entwicklungsschritte durchlaufen. Die Berufsausbildung spielt dabei eine zentrale Rolle für ihre persönliche und berufliche Entfaltung und Identitätsbildung. Vor Lehrstart gehört die Vorfreude genauso dazu wie die Unsicherheiten.
Barbara Schmocker, was war ausschlaggebend für die gemeinsam mit den Akteuren der Berufsbildung entwickelte und durchgeführte Lernenden-Befragung?
Das Thema beschäftigt uns schon länger: So haben wir beispielsweise 2021 die Berufsbildenden-Befragung durchgeführt, bei der wir die Perspektive der Berufs- und Praxisbildenden im Umgang mit psychisch auffälligen Lernenden erfragt haben. Uns hat schon immer interessiert, wie die Lernenden selber ihre Situation einschätzen.
Die Berufsbildung hat in der Schweiz einen sehr hohen Stellenwert und bietet sehr viel fachliche und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten. Gleichzeitig sind die Jugendlichen in einer Lebensphase, die sehr herausfordernd ist. Die Verknüpfung von psychischer Gesundheit und Berufsbildung aus der Perspektive der Lernenden wurde bisher nicht erforscht. Deshalb war bisher nicht bekannt, welche Faktoren den Verlauf einer Lehrebeeinflussen, wo Belastungen entstehen und inwiefern die Lehre zur Stabilität beitragen kann.
Für mich persönlich war es auch eine Herzensangelegenheit. Ich habe meine Wurzeln in der Berufsbildung.
Wie steht es um die psychische Gesundheit der Lernenden?
In der Adoleszenz werden Jugendliche mit neuen Lebenswelten und Herausforderungen konfrontiert. Sie erleben ganz viele «erste Male» und ihr Rucksack ist noch nicht gefüllt mit erprobten Lösungen. Gleichzeitig stecken sie noch mitten in der Entwicklung: Das Gehirn strukturiert sich neu und gleicht einer Baustelle. Es sind u.a. diese Faktoren, die Jugendliche anfälliger für psychische Probleme machen.
Die Resultate unserer Lernenden-Studie stützt die Einschätzung der Berufsbildner, dass rund 60 Prozent der Lernenden seit Beginn ihrer Lehre schon mindestens einmal psychische Probleme hatten. Darunter verstehen wir das ganze Spektrum von negativen Gefühlen oder Gedanken bis hin zu psychischen Erkrankungen. Unsere Ergebnisse sind vergleichbar mit anderen Studien, beispielsweise mit der in Deutschland und Österreich durchgeführten YEP-Studie (Youth and Empowerment Participation).
Rund 80 Prozent der Lernenden berichten, dass es ihnen in der Lehre eher gut bis sehr gut geht. Gleichzeitig geben zwei Drittel an, während der Ausbildung mit psychischen Problemen konfrontiert zu sein ‒ von negativen Gedanken und Gefühlen bis zu psychischen Krisen und Krankheiten. Der sehr hohe Anteil an zufriedenen Lernenden trotz weit verbreiteter psychischer Belastungen erstaunt. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Ich denke nicht, dass es ein Widerspruch ist. Für uns Menschen ist es schwierig, das gleichzeitige Bestehen von scheinbaren Widersprüchen gedanklich übereinzubringen. Als wir die Umfrageresultate mit den Lernenden besprochen haben, waren diese überhaupt nicht überrascht. Eine psychische Belastung zu haben schliesst nicht aus, gleichzeitig Freude zu empfinden und stolz zu sein.
Die Lernenden-Befragung zeigt: Rund 42 Prozent der Lernenden hatten bereits vor der Lehre mit psychischen, familiären und schulischen Problemen zu kämpfen, oft schon in der Primarschule. Während die Vorgeschichte psychische Probleme in der Lehre mit Abstand am besten voraussagt, lässt diese kaum Rückschlüsse über die Leistung und Entwicklungsfähigkeit in der Lehre zu. Welche Faktoren sind für einen erfolgreichen Lehrverlauf ausschlaggebend?
Die Berufslehre ist eine Chance für die persönliche Entwicklung, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Das Arbeitsklima und die Arbeitsbeziehungen ‒ sei es im Lehrbetrieb oder in der Berufsfachschule – sind matchentscheidend. Ein unterstützendes Team wird am häufigsten genannt, wenn es um die Gründe für die Weiterempfehlung des Lehrbetriebs geht.
Obschon die Befragung zeigt, dass über 80 Prozent der Lernenden die Beziehung zu Ihren Ausbildungsverantwortlichen und den Klassenlehrpersonen als positiv wahrnehmen, sprechen viele ihre psychischen Probleme nicht an. Warum ist das so?
Primär wenden sie sich an Familie und Freunde, was gut ist. Sich an Vertrauenspersonen zu wenden, wenn es einem nicht gut geht, ist wichtig. Wir haben die Lernenden gefragt, warum sie sich nicht an die Verantwortlichen in der Lehre wenden. Beinahe 40 Prozent geben an, dass sie es alleine schaffen wollen. Das ist ein erfreuliches Ergebnis, denn je mehr Herausforderungen die Lernenden erfolgreich bewältigen, desto mehr kann ihre Selbstwirksamkeit wachsen – das hilft dann beim nächsten Mal, wenn es schwierig wird.
Gleichzeitig ist es wichtig, die Grenzen zu kennen und zu wissen, wann wir uns mitteilen sollten. Weitere häufige Gründe, warum sich Lernenden nicht an die Verantwortlichen wenden sind: weil sie nicht einschätzen können, ob es schon «schlimm genug» ist, weil sie nicht wissen wie sie über ihre Belastungen sprechen sollen oder weil sie sich schämen.
«Es braucht eine Korrektur des Bildes, das wir von Lernenden haben – weg von «die sind verweichlicht» hin zur Anerkennung, dass sie über Ressourcen und Resilienz verfügen.»
Barbara Schmocker, Psychologin und Co-Autorin der WorkMed-Studie
Welches Fazit ziehen sie aus der Studie?
Die Studie zeichnet ein differenziertes Bild vom Erleben der Ausbildung, dass auch die psychische Gesundheit miteinschliesst. Die weit verbreitete Meinung, junge Menschen seien heute weniger resilient, wird von der Studie widerlegt. Dies wird unter anderem durch die Tatsache untermalt, dass zwar die Hälfte der Studierenden während der Lehre mindestens einmal an einen Lehrabbruch denkt, es dann aber über 80 Prozent nicht tun, weil sie nicht aufgeben wollen.
Wo sehen Sie Ansatzpunkte für die Unterstützung von psychisch belasteten Lernenden ‒ und von deren Ausbildungsverantwortlichen?
Ein möglicher Ansatzpunkt könnte die Befähigung der Lernenden sein, die arbeitsbezogenen Probleme ihren Ausbildungsverantwortlichen im Betrieb oder in der Berufsschule zu schildern. Gleichzeitig könnte die Kompetenz, wie man zum Beispiel über Belastungen im Betrieb in geeigneter Form spricht, zu einem integrierten Bestandteil der Berufsbildung gemacht werden. Auf der anderen Seite sollten auch die Berufsbildenden unterstützt und bestärkt werden, sich für die Lernenden und deren Anliegen zu interessieren und Auffälligkeiten anzusprechen.
Es braucht eine Korrektur des Bildes, das wir von Lernenden haben – weg von «die sind verweichlicht» hin zur Anerkennung, dass sie über Ressourcen und Resilienz verfügen. Probleme gehören zur Adoleszenz. Es geht um die Haltung der Lehrbetriebe gegenüber den Lernenden und um das Klima in den Klassen. All diese Faktoren haben einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung der Lernenden.
Die WorkMed AG ist ein Zentrum für Arbeit und psychische Gesundheit, welches im Bereich Prävention, Klärung und Bewältigung von Ausbildungs- und Arbeitsproblemen sowie Verbesserung der Erwerbsfähigkeit und Arbeitsmarktintegration von Personen mit psychischen Problemen tätig ist. Dafür erbringt die SWICA-Tochter umfassende Leistungen für verschiedene Zielgruppen.
Fortschrittliches Präventionsangebot für Unternehmen
SWICA bietet Unternehmen ein breites Angebot an Präventionsmassnahmen zur Stärkung der mentalen Gesundheit. Zum Beispiel den Workshop «Mentale Gesundheit für Lernende»: Referate, Workshops & Webinare – SWICA