Gendermedizin
Nicht alle Herzen schlagen gleich

Eine Medizin für alle Geschlechter, so lautete bis anhin die Annahme. Mehr und mehr zeigt sich aber, dass es geschlechterspezifische Unterschiede gibt. Über diese Bescheid zu wissen, kann über Leben und Tod entscheiden.

Plötzlicher Schmerz in der Brust, Schweissausbrüche, Todesangst. Viele wissen: Bei diesen Symptomen gilt es, schnellstmöglich die Ambulanz zu rufen, weisen sie doch auf einen Herzinfarkt hin. Weniger dringend scheint eine medizinische Versorgung bei unspezifischen Beschwerden wie Hals- oder Kieferschmerzen, Druck auf Brust, Rücken oder Bauch, Übelkeit und Kurzatmigkeit. Doch auch sie sind typisch für einen Herzinfarkt – allerdings vor allem bei Frauen. «Bei Frauen wird deshalb ein Herzinfarkt oft viel später erkannt und behandelt als bei Männern, was die Prognose natürlich verschlechtert», erklärt Silke Schmitt Oggier, Chefärztin bei santé24. 

Biologische Unterschiede

Doch nicht nur bei einem Herzinfarkt unterscheiden sich die Geschlechter in Symptomatik, Diagnosestellung und Therapie. Aus neueren Forschungsarbeiten ist bekannt, dass sie beispielsweise auch in Bezug auf den Knochenstoffwechsel, das Immunsystem oder die Orthopädie voneinander abweichen. Es gibt zudem Hinweise auf geschlechtsspezifische Differenzen bei Tumorerkrankungen, Depression oder Migräne. «Bei den meisten Krankheiten weiss man aber gar nicht, ob es geschlechterspezifische Unterschiede gibt, weil man sie nie daraufhin untersucht hat», so Schmitt Oggier. 

Männer als Standard

Ein weiteres Problem: Meist sind bei medizinischen Studien nur Männer berücksichtigt worden, die Ergebnisse dieser Studien gelten aber als Standard für alle Geschlechter. «Auch bei Studien zu Medikamenten und deren Dosierungen dominieren junge gesunde Männer als Teilnehmende», erklärt die Ärztin. So können Schwangerschaften und daraus resultierende Risiken für Mutter und Kind während der Studie ausgeschlossen werden. «Wahrscheinlich könnte man mit auf das Geschlecht angepassten Dosierungen aber einige Nebenwirkungen oder Schäden an der Leber oder den Nieren verringern oder verhindern.» 

Soziokulturelles Geschlecht beeinflusst Behandlung

Neben den biologischen gibt es aber auch gesellschaftlich bedingte Geschlechtsunterschiede. Denn auch Stereotypen können Diagnose und Behandlung einer Krankheit beeinflussen. So werden Männer in der Gesellschaft als eher stärker und stabiler eingeschätzt, weshalb Fachpersonen allfällige psychische Beschwerden bei ihnen häufig unterschätzen. Dies zeigen Experten auch im «Männergesundheitsbericht 2013» der Stiftung Männergesundheit auf. Andererseits brachte eine amerikanische Studie von 2021 hervor, dass Frauen mit ihren Schmerzen weniger ernst genommen werden. Laut den Forschenden könnte dies daran liegen, dass Frauen tendenziell als emotionaler wahrgenommen werden. 

Forschung sehr wichtig

In jüngerer Zeit nimmt sich die Gendermedizin all diesen Themen an. Ihr Ziel ist es, Krankheiten bei Frauen und Männern gezielter diagnostizieren und effektiver behandeln zu können. «Damit hat sie auch präventiven Charakter», unterstreicht die Chefärztin die Wichtigkeit der Gendermedizin. «Wir haben hier wirklich Wissenslücken, es muss deshalb unbedingt im grossen Stil weiter geforscht werden.»

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