«Nicht das Smartphone ist das Übel, sondern der Umgang damit»

Das Smartphone, dein Freund und Helfer? Jein. Die kleinen Alleskönner haben besonders für Jugendliche ein riesiges Suchtpotenzial. Psychologin Alice Baldinger gibt Auskunft, welche Warnzeichen auf ein problematisches Nutzungsverhalten hinweisen und wie man mithilfe von Digital Balance zu einem gesünderen Umgang mit dem Smartphone findet.

Telefon, Wecker, Portemonnaie, Kamera, Spielkonsole: Das Smartphone ist ein wahrer Alleskönner. Es ersetzt unzählige Objekte und vereint ihre Funktionen innerhalb eines Geräts, das in die Hosen- oder Handtasche passt und überall mitgenommen werden kann. Praktisch oder? Absolut. Das Smartphone hat die Welt unbestreitbar vereinfacht und ist für viele nicht mehr wegzudenken. Aber es gibt auch eine Schattenseite. Das Suchtpotenzial ist extrem hoch, besonders bei Jugendlichen, die in den sozialen Medien unterwegs sind. Laut der JAMES-Studie sind es bei den 12- bis 19-Jährigen durchschnittlich drei Stunden Bildschirmzeit pro Wochentag – an Wochenenden sogar noch länger. Unter anderem die ständige Erreichbarkeit, der soziale Vergleich mit anderen und die Angst, etwas zu verpassen, wirken sich negativ auf die Gesundheit der jungen Menschen aus.

Immer verbunden, aber trotzdem allein

Während man sich in den Anfangszeiten der Smartphones in erster Linie um deren Strahlung gesorgt hat, rückt immer mehr die mentale Gesundheit in den Fokus von Untersuchungen zum Nutzungsverhalten. Man geht davon aus, dass ein übermässiger Konsum mit Depressionen oder Angstgefühlen in Verbindung gesetzt werden kann. «Durch den übermässigen Smartphone-Konsum nehmen Gefühle der Einsamkeit oft zu», sagt Alice Baldinger, Psychologin bei santé24. Grund dafür ist das ständige Vergleichen in den sozialen Medien, der nicht selten zu einem negativen Selbstwertgefühl führt. Denn auf diesen Kanälen überwiegen Posts zu den schönen und aufregenden Seiten des Lebens. Wenn also unzählige tolle Erlebnisse auf den kleinen Bildschirm des Handys komprimiert und zu einer nie endenden Scroll-Schlaufe aneinandergereiht werden, kann man schnell das Gefühl bekommen, dass das eigene Leben weniger aufregend und nichtssagender ist. Ein wichtiges Stichwort hier ist FOMO («Fear of missing out») – also die Angst, etwas zu verpassen. Sie weckt Minderwertigkeitsgefühle und sorgt für zusätzlichen Stress bei Jugendlichen, die bereits unter immensem Anpassungsdruck stehen. 

Ab wann ist das Nutzungsverhalten problematisch?

Es gibt keinen allgemein gültigen Richtwert, ab wann die Smartphone-Nutzung als problematisch angesehen wird. Denn das Nutzungsverhalten und das Verarbeiten der Inhalte der sozialen Medien sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Klar ist aber: Je höher die Smartphone-Nutzung ist, desto weniger Zeit bleibt für Offline-Aktivitäten wie sozialer Austausch, kreatives Arbeiten, ausreichend Schlaf und Bewegung, die wichtig für das Wohlbefinden sind. «Die Alarmglocken sollten läuten, wenn Anerkennung, Erfolgserlebnisse oder soziale Kontakte hauptsächlich aus der digitalen Welt stammen», sagt Alice Baldinger. Die Lebensqualität offline soll nicht auf Kosten der Smartphone-Nutzung vernachlässigt werden. Auch körperliche Beeinträchtigungen wie Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, verminderte körperliche Fitness oder Migräne seien ein mögliches Warnzeichen für ein problematisches Nutzungsverhalten.

«Die Nutzer sollen selber entscheiden, wann sie zum Smartphone greifen, nicht umgekehrt.» Alice Baldinger, Psychologin

Zurück zu mehr Selbstkontrolle

Wer ein Smartphone besitzt, kennt keine Langeweile mehr. Fast schon automatisch erfolgt der Griff in die Hosentasche, sobald irgendwo eine Wartezeit überbrückt werden muss. Wer sich immer wieder beim unbewussten Scrollen ertappt, sollte frühzeitig dagegen ansteuern. «Die Nutzerinnen und Nutzer sollen selber entscheiden, wann sie zum Smartphone greifen, nicht umgekehrt», unterstreicht Baldinger. Aber wie soll das gelingen, wenn das kleine Gerät immer verfügbare Unterhaltung jeglicher Art bietet? Eine einfache Möglichkeit ist, das Smartphone weniger attraktiv zu machen. Push-Benachrichtigungen, die den Griff zum Handy oft initiieren, können beispielsweise komplett oder für einzelne Apps ausgestellt werden. Auch zeitliche Limiten für Apps oder visuelle Einschränkungen wie der Schwarz-Weiss-Modus verhindern, dass man in ein unkontrolliertes Scrolling rutscht.

Wer einen Schritt weiter gehen möchte, kann es auch mit «Digital Detox», also der digitalen Entgiftung, versuchen. Der Trend aus den USA hält schon seit Jahren an und beschreibt einen Zeitraum, in dem das Smartphone gar nicht oder nur für das absolut Nötigste benutzt wird. «Wer eine Zeit lang komplett offline ist, entdeckt möglicherweise Lebensqualität, die man von früher kennt oder vielleicht noch gar nie erlebt hat», bestätigt Baldinger. 

Die Nutzung nachhaltig anpassen

Digital Detox ist ein spannendes Experiment, um das eigene Nutzungsverhalten zu reflektieren und sich zu motivieren, dieses gegebenenfalls anzupassen. Auf Dauer ist es aber unrealistisch, komplett auf das Smartphone zu verzichten. Gemäss der santé24-Psychologin lautet das langfristige Ziel also nicht Digital Detox, sondern Digital Balance: «Es macht in der heutigen Zeit wenig Sinn, das Smartphone generell zu verteufeln, denn nicht das Gerät ist das Übel, sondern unser Umgang damit – und den haben wir selbst in der Hand.» Ein gesundes Verhältnis zwischen on- und offline erhält die Vorteile des Smartphones, die Nutzung bleibt aber selbstbestimmt und reflektiert.

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