«Für die Schweizer Gletscher ist der Zug abgefahren»

Die Eismassen schmelzen drastisch. Als Glaziologe an der ETH Zürich beschäftigt sich Matthias Huss tagtäglich mit den Veränderungen der Gletscherwelt. Im Interview zeigt er auf, was die schwindenden Gletscher für die Schweiz sowie die Welt bedeuten, worum es in seinem Job geht und welche Massnahmen es braucht, um die schlimmsten Umweltszenarien zu verhindern.

Als Glaziologe erforschen Sie Gletscher. Sind die Eismassen Ihr Arbeitsort?

Es ist eine romantische Vorstellung, dass Glaziologen ständig auf einem Gletscher herumlaufen und dort Messungen vornehmen. Klar, auch ich bin etwa 30 Tage pro Jahr auf dem Eis, der grösste Teil meines Jobs ist jedoch der Datenauswertung gewidmet. Daher bin ich meistens im Büro. Dennoch ist mein Beruf sehr abwechslungsreich und gefällt mir.

Was beinhaltet die Messung vor Ort, wenn Sie draussen sind?

Auf etwa 20 Gletschern in der Schweiz betreuen wir ein Messnetz mit Stangen, die im Eis stecken. Im Herbst werden diese gesetzt, anschliessend bleiben sie ein Jahr dort. An ihnen lässt sich ablesen, wie stark sich das Eis verändert.

Im Winter führen wir zudem Messungen der Schneehöhe und -dichte durch. Oben am Gletscher lagert sich Schnee mit einer geringeren Dichte an, unten verliert er Eis mit einer höheren Dichte. Mit diesen Metriken wird berechnet, wie sich die Masse des Gletschers von Jahr zu Jahr entwickelt.

Warum braucht es die Glaziologie?

Die Gletscher sind Botschafter des Klimawandels – sie können dessen Auswirkungen sehr gut fassbar machen. Die Glaziologie münzt ihre Beobachtungen, Daten und Dokumentationen in Botschaften um. Damit machen wir deutlich, wie stark die Gletscher schmelzen. Es ist ähnlich wie mit der Temperatur: Man kann rausgehen und sagen, es sei heiss. Aber nur mit Messungen kann bewiesen werden, wie heiss es tatsächlich ist.

Und was sagen Ihre Daten in Bezug auf die Schweizer Gletscher?

Für die Schweizer Gletscher ist der Zug grösstenteils abgefahren. Die kleinen Gletscher, die wir noch kennen, werden wir verlieren – selbst mit effizientem Klimaschutz. Gletscher haben eine lange Reaktionszeit und hängen in Sachen Klimaveränderungen stets hinterher. Sie reagieren jetzt noch auf das, was vor 50 Jahren geschah. Darum kann der Rückgang nicht sofort gestoppt werden.
30 Tage pro Jahr verbringt Matthias Huss auf dem Eis, um dort Messungen vorzunehmen. © R. Moser

Gibt es wirklich keine Chance mehr? Auch nicht für die grossen Gletscher?

Die momentanen Berechnungen deuten darauf hin, dass beispielsweise der Aletschgletscher – der grösste Gletscher der Alpen – bestehen bleibt. Sogar mit Eis am Jungfraujoch und dem Eisfeld am Konkordiaplatz, dem Ort, wo sich mehrere grosse Gletscher vereinigen. Aber die mächtige, 14 Kilometer lange Gletscherzunge wird definitiv verschwinden bis in knapp 100 Jahren.

Apropos Aletschgletscher: Dieser hat 2022 am Konkordiaplatz etwa sechs Meter Eisdicke verloren. Was geht in Ihnen vor, wenn sie solche Messungen vornehmen?

Es gibt zwei Perspektiven: Einerseits bin ich ein Wissenschaftler. Solche Werte, die man nicht für möglich gehalten hätte, zu messen und mitzuerleben, ist faszinierend. Andererseits bin ich ein Mensch, der gerne in den Bergen unterwegs ist. So betrachtet, stimmt es mich durchaus traurig und nachdenklich, wie stark der Rückgang vonstattengeht und wie schnell das Eis verschwindet.

2022 kam klimatechnisch einiges zusammen, das für die Gletscher ungünstig war. Was geschah?

Einerseits gab es einen schneearmen Winter. Entsprechend fehlte es den Gletschern im Sommer an Nahrung und an einer Schutzschicht aus Schnee und Eis. Nach dem trockenen Winter setzte die Schneeschmelze ungewöhnlich früh ein. Wir hatten im Mai bereits Hitzewellen von 30 Grad Celsius. Den ganzen Sommer war das Wetter konstant gut mit hohen Temperaturen und mehreren Hitzewellen. Das alles brachte die Gletscher noch stärker zum Schmelzen. Als ob das nicht schon genug war, kam auch noch Saharastaub hinzu. Der konkrete Effekt davon lässt sich zwar nicht genau quantifizieren, allerdings war der Schnee auf den Gletschern durch die Verschmutzung dunkler gefärbt. So nahm er die Sonnenstrahlung effizienter auf und schmolz schneller.

Und wie sah es 2023 aus?

Die Fachwelt wusste, dass 2022 ein Extremereignis war, das aus den historischen Schwankungen ausbrach. Dass es 2023 wieder einen Verlust geben würde, war zwar zu erwarten, jedoch nicht in dem Ausmass wie 2022. Dann kam der Winter, der vielerorts noch trockener als derjenige im Vorjahr war. Darüber hinaus gab es nochmals einen sehr heissen Sommer. Das Szenario hat sich also fast wiederholt.

Zwei Jahre hintereinander dieselbe Entwicklung. Kann man von einem Trend sprechen?

Was den fehlenden Schnee im Winter betrifft, nein. Die Klimamodelle geben keine Anhaltspunkte darauf, dass die Winter generell trockener werden. Bezüglich dem fehlenden Schneefall hatten wir die letzten zwei Jahre wohl vor allem auch Pech. In Bezug auf die Temperaturen im Sommer sehen wir jedoch einen sehr klaren Trend. Die Schmelze während der warmen Jahreszeit wird weiter ansteigen.

Gibt es eine Möglichkeit, die Gletscher zu stabilisieren oder gar wieder wachsen zu lassen?

Damit die Gletscher im Gleichgewicht bleiben oder wachsen könnten, bräuchte es eine konstante Temperatur-Reduktion von mindestens zwei bis drei Grad Celsius in den Alpen. Es ist übrigens spannend zu beobachten, wie sich unser Empfinden mit der Zeit verändert. Beispielsweise empfanden wir den Sommer 2021 als schrecklich, weil er kalt und nass war. Aber selbst dieses Wetter war zu warm, um ein Gleichgewicht bei den Gletschern zu erreichen.

Eine Schweiz ohne Gletscher. Unvorstellbar?

Wir werden grundsätzlich ohne Gletscher überleben können, auch wenn dadurch neue Gefahren entstehen können – beispielsweise Steinschlag, Flutwellen und dergleichen. Die Veränderung der Natur kann aber durchaus auch ihren Reiz haben: Neue Täler und Seen werden entstehen, die Vegetation wird sich anpassen.
«Weltweit gesehen ist der Klimawandel und der damit einhergehende Gletscherschwund die wohl grösste Herausforderung der Menschheit für die nächsten Jahrhunderte.»  Matthias Huss, Glaziologe an der ETH Zürich

Und wie sieht es global aus?

Weltweit gesehen ist der Klimawandel und der damit einhergehende Gletscherschwund die wohl grösste Herausforderung der Menschheit für die nächsten Jahrhunderte. Der unaufhaltsam ansteigende Meeresspiegel ist eine gewaltige Bedrohung für Milliarden von Menschen in Küstenregionen. Wenn es so weitergeht, werden Städte wie New York versinken. Unglaublich viele Menschen würden so entwurzelt und zu Klimaflüchtenden werden. Unsere gesamte globale Gesellschaft würde umstrukturiert. Das gilt es zu verhindern.

Man weiss, dass etwas unternommen werden muss, es passiert aber zu wenig. Entsteht bei Ihnen dadurch eine gewisse Ohnmacht?

Mich spezifisch als Forschenden macht es nicht ohnmächtig, ich beschäftige mich täglich damit und sehe was abgeht. Wichtig wäre aber, dass auch die breite Bevölkerung erkennt, dass wir so nicht weitermachen können.

Was ist der Grund, warum diese Ohnmacht in der Bevölkerung ausbleibt?

Wir sprechen bei diesen Szenarien von langen Zeiträumen. Was in den nächsten paar Jahren passiert, ist für viele noch greifbar. Wenn wir aber von Konsequenzen ab dem Jahr 2100 und darüber hinaus sprechen, dann ist das für die meisten Menschen zu weit weg. Wenn wir aber als Menschheit weiterhin bestehen wollen – auch in 500 Jahren noch – dann müssen wir uns solche Gedanken machen.

Was wäre eine Lösung, um die schlimmsten Szenarien abzuwenden?

Wir müssen die weltweiten CO2-Emmissionen auf null bringen, wenn der Klimawandel global noch auf einem einigermassen ertragbaren Niveau bleiben soll.

Wie stehen unsere Chancen, das zu erreichen?

Es ist nicht mehr fünf vor zwölf, sondern fünf nach zwölf.

Im Klartext: Es ist zu spät?

Die Menschheit hätte besser schon vor 20 Jahren reagiert, als die Fakten bereits auf dem Tisch lagen. Auch wenn wir sehr spät dran sind; es ist wichtig, jetzt sofort Massnahmen zu ergreifen, anstatt zuzuwarten. Mit jedem Jahr, in dem wir nichts tun, wird es schlimmer. Wenn wir gar nichts machen, wird es dramatisch. Die Klimaeffekte werden irgendwann völlig aus dem Ruder laufen.

Gut ist immerhin, dass das Thema sehr präsent ist. Das stimmt mich positiv. Die CO2-Emmissionen steigen zwar global noch immer leicht, aber die Diskussionen werden sehr aktiv geführt. Bei fast allen Regierungen weltweit scheint das Verständnis vorhanden zu sein, dass man handeln muss. Diese Handlungen gehen zwar noch nicht weit und schnell genug, trotzdem sind wir auf dem richtigen Weg.

Gibt es Massnahmen, die jede und jeder ergreifen kann, um unsere Gletscher zu schützen?

Gletscher rettet man über den Klimaschutz. Dazu braucht es eine persönliche Verhaltensänderung. Weniger reisen, weniger Autofahren, die Essgewohnheiten ändern und so weiter. Das sind primär selbstlose Akte. Meine Hoffnung ist, dass das Problem über einen Generationenwechsel gelöst werden kann. Unsere Kinder wachsen in einer Welt auf, in der ganz anders über das Thema Klimawandel gesprochen wird.

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Der Gletscherschwund ist eine der greifbarsten Symptome des Klimawandels. Und nicht nur für Auge und Herz ist der Anblick schmerzhaft – weniger Eismassen in den Bergen haben einen direkten Einfluss auf Mensch und Natur. Mit den Community-Coins von BENEVITA unterstützen Sie den WWF Schweiz bei Massnahmen zum Erhalt alpiner Gletscherwelten.

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Über Matthias Huss

Matthias Huss promovierte 2009 in Glaziologie. Er forscht an der ETH in Zürich primär an der Massenbilanz von Gebirgsgletschern, der hydrologischen Modellierung von vergletscherten Einzugsgebieten sowie der Reaktion von Gletschern auf die Klimaänderung in der Vergangenheit sowie in der Zukunft.

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