«Vergeben zu können, setzt ein hohes Mass an Selbstreflexion voraus»

Ob nach wiederholten Kränkungen im Alltag oder schwerem Unrecht und traumatischen Erfahrungen – Vergebung spielt in vielen Lebenssituationen eine zentrale Rolle. Solche Erlebnisse sind zutiefst menschlich und gehen oft mit innerem Ringen, Schmerz und einem intensiven persönlichen Prozess einher. Angela Schwarz von der Onlinepraxis santé24 erklärt, wie eng Verzeihen mit Selbstreflexion verknüpft ist und welche Fähigkeiten und Rituale den Weg zur Vergebung erleichtern können.

Angela Schwarz, bei welchen Themen, die in psychotherapeutischen Gesprächen zur Sprache kommen, spielt Verzeihen eine Rolle?
Das Spektrum ist sehr breit und reicht von wiederkehrenden, alltäglichen Kränkungen über Mobbing bis hin zu schwerem Unrecht und traumatischen Erfahrungen. Immer wieder zeigen sich in den Therapien Themen, die auf frühe Verletzungen in der Kindheit zurückgehen – oft im Zusammenhang mit schwierigen Erfahrungen in der Beziehung zu den Eltern. Ziel ist es, mit dem Vergangenen Frieden zu schliessen. In den Therapien steht das Thema Verzeihen selten explizit im Vordergrund. Vielmehr geht es darum, einen akzeptierenden, mitfühlenden Umgang mit sich selbst zu finden.

Wie verändert sich die Fähigkeit zur Vergebung im Laufe des Lebens?
Ich denke, es ist weniger eine Frage des Alters als eine der inneren Reife und persönlichen Entwicklung. Entscheidend ist, wie bereit man ist, sich selbst und das eigene Erleben zu reflektieren und ob man die Fähigkeit entwickelt, bestimmte Dinge auch einfach loszulassen.

Welche Bedeutung hat das Vergeben für die Gesundheit und welche Folgen kann es haben, wenn man nicht verzeihen kann?
Anhaltender Groll oder die Unfähigkeit, ein belastendes Thema loszulassen, kann zu chronischem Stress führen. Dieser kann sich wiederum negativ auf das vegetative Nervensystem und das Herz-Kreislauf-System auswirken. Mögliche Folgen sind Verbitterung, Körper-Stress-Symptome wie Schlafstörungen oder Kopfschmerzen, Magen-Darm-Beschwerden – bis zu Depressionen. Vergebung kann eine tiefgreifende emotionale Entlastung bewirken. Sie hilft, mit Vergangenem abzuschliessen und weiterzugehen im Leben. Stress und stressbedingte Symptome können dadurch spürbar reduziert werden. Wichtig ist: Vergeben ist ein Akt der Selbstfürsorge, etwas, was man für sich tut und nicht für andere. Und es bedeutet nicht, das Verhalten der anderen Person gutzuheissen oder den erlebten Schmerz zu relativieren. Die damit empfundenen Gefühle bleiben gültig und dürfen Raum haben.

Warum fällt manchen Menschen das Vergeben so schwer?
Der Prozess, etwas Schmerzhaftes oder Ungerechtes, das einem zugestossen ist und über das man wenig Kontrolle hat, zu akzeptieren und das dann loszulassen, ist anspruchsvoll. Wir Menschen mögen es grundsätzlich nicht so sehr, Unsicherheiten auszuhalten. Manchmal besteht auch die Angst, dass der erlebte Schmerz an Bedeutung verliert, wenn man ihn loslässt. Sicht selbst zu vergeben, ist oft schwieriger, als anderen zu vergeben. Man schämt sich oder fühlt sich schuldig, wenn man einen Fehler gemacht hat. Viele Menschen haben einen starken inneren Kritiker und ein unbewusstes, oft sehr bewertendes Narrativ mit sich selbst.

Angela Schwarz
«Anhaltender Groll oder die Unfähigkeit, ein belastendes Thema loszulassen, kann zu chronischem Stress führen.» Angela Schwarz, Psychologin, Psychotherapeutin und Fach-Coach bei der Onlinepraxis santé24

Ist Vergeben lernbar?
Ja, ich denke, das ist möglich. Vergeben zu können, setzt jedoch ein hohes Mass an Selbstreflexion voraus. Einerseits geht es darum, die eigenen Grenzen zu kennen und sich über die persönlichen Werte klarzuwerden. Zum anderen spielen Perspektivwechsel und die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, eine zentrale Rolle. Ein wesentlicher Schritt im Prozess ist die Bereitschaft zur sogenannten «radikalen Akzeptanz» – also das Geschehene anzunehmen, so schwer es auch gewesen sein mag, und sich bewusst zu machen, dass es nicht ungeschehen gemacht werden kann.

Können Frauen besser verzeihen als Männer?
Meiner Ansicht nach hängt die Fähigkeit zu vergeben weniger vom Geschlecht ab als von der persönlichen Reife und inneren Haltung. Zwar zeigen sich in der Sozialisation nach wie vor Unterschiede – viele Frauen wachsen mit einer stärkeren Betonung auf Empathie und Beziehungsorientierung auf, während bei Männern oft Autonomie und Selbstbehauptung im Vordergrund stehen. Solche Prägungen können beeinflussen, wie jemand mit Konflikten und emotionalen Verletzungen umgeht. Letztlich ist Vergebung aber keine Frage des Geschlechts, sondern der individuellen Bereitschaft, sich auf diesen inneren Prozess einzulassen.

Kann Verzeihen auch hinderlich sein, etwa in toxischen Beziehungen, in denen es wiederholt zu Kränkungen kommt?
In toxischen Beziehungen geht es zuerst darum, sich selbst zu verzeihen ‒ dafür, dass man in diese Situation geraten ist. Das erfordert Akzeptanz und Mitgefühl mit sich selbst. Im nächsten Schritt gilt es zu erkennen, dass man die andere Person nicht verändern kann. Stattdessen sollte man sich bewusst machen, wo die persönlichen Grenzen liegen und wie man mit der Situation umgehen möchte. Eine «echte» Verzeihung ist in einem Umfeld, in dem einem immer wieder Unrecht widerfährt, kaum möglich. Solange man sich noch in der Dynamik verletzender Erfahrungen befindet, kann dieser Prozess gar nicht richtig beginnen. In so einem Fall wäre Verzeihen kein Akt der Befreiung, sondern eher ein Sich-Anpassen – und damit kein echtes Verzeihen im eigentlichen Sinn.

Welche Tipps und Rituale helfen beim Vergebungsprozess?

Der erste Schritt ist, die Emotionen zuzulassen und achtsam wahrzunehmen, was hinter der Kränkung / Verletzung steckt. Unterstützend für den Vergebungsprozess sind:

  • Selbstreflexion und emotionale Achtsamkeit
  • Fähigkeit zur klaren Abgrenzung und Selbstschutz
  • Bereitschaft zur radikalen Akzeptanz des Geschehenen
  • Selbstvergebung: ehrlicher, mitfühlender Blick auf die eigene Unvollkommenheit
  • Empathische Haltung, ohne das Verhalten anderer zu entschuldigen
  • Tagebuch schreiben. Das kann einen strukturierenden, beruhigenden Effekt haben.
  • Der betroffenen Person einen Brief schreiben, ohne ihn tatsächlich abzuschicken.
14.10.2025 / 3-2025