Schmerz gehört zum Leben, Leiden ist optional

Nach einer Vorsorgeuntersuchung erhält Andrea S. Müller die Diagnose Magenkrebs. Das konfrontiert sie mit äusserst schwierigen Gedanken und Gefühlen. Trotz allem hievt sie sich Schritt für Schritt aus der existenziellen Krise – auch mit der Unterstützung ihres Care Managers.

«Geduld ist das Schwerste und das Einzige, was zu lernen sich lohnt», zitiert Andrea S. Müller den Schriftsteller Hermann Hesse. Langsam und ergeben erzählt sie von der Wendung, die ihr Leben am 25. November 2019 nahm: Ihr Arbeitgeber kündigt ihr nach zwölf Jahren aus wirtschaftlichen Gründen. Noch hat die 55-Jährige diese Nachricht nicht verdaut, als sie eine Woche später der nächste Schlag trifft: Nach einer Vorsorgeuntersuchung erhält sie völlig unerwartet die Diagnose Magenkrebs. Nach weiteren Untersuchungen und Abklärungen steht der Behandlungsablauf fest. Carmine Coscia, Care Manager von SWICA, steht ihr während der ganzen Zeit zur Seite: «Er motiviert und unterstützt und spiegelt mich, er kennt alle Anlaufstellen, bietet sich mir auch immer wieder an als Schnittstelle.» So ist er auch zur Stelle, als sie sich zwischen Dezember 2019 und Februar 2020 der ersten Serie Chemotherapie unterzieht.

Zwiespältige Gefühle

Diese löst allerhand schwierige Gefühle und Fragen bei ihr aus. «Eine Chemotherapie ist etwas sehr Schizophrenes. Einerseits war ich unendlich dankbar, dass mir die zur Zeit weltbeste Behandlung angeboten wurde», erklärt sie. «Andererseits lag ich über Stunden freiwillig im reinweissen Spitalbett und habe mir Gift in meine Venen fliessen lassen.» Die Nebenwirkungen und Beschwerden werden je schlimmer, je belasteter Andrea S. Müllers Körper von der Chemotherapie ist. «Eine Chemo ist wie eine Verzerrung des ganzen Körpers, es zerreisst einen fast, man will nicht im Körper sein, ist aber drin gefangen», versucht sie ihre Erfahrung in Worte zu fassen. Ihr Lebenspartner, die Familie und ihr soziales Umfeld unterstützten sie stets sehr in dieser herausfordernden Zeit.

Zeichnung fürs Leben

Einige Wochen später geht es für die Operation zurück ins Claraspital, wo ihr der gesamte Magen entfernt werden muss: «Eine Zeichnung fürs Leben, zu der ich ja gesagt habe», sagt sie nachdenklich. Ab sofort muss sie ihr Essverhalten total anpassen und sich an viele verschiedene Regeln halten. Dies verlangt ihr ein hohes Mass an Zeit, Disziplin und Flexibilität ab. «Auch wenn ich noch Lust auf Essen verspüre, muss ich stoppen. Denn es zeigt sich erst später, wenn es zu viel war für mein System.» Zudem verträgt sie manche Lebensmittel mal gut, mal gar nicht. Kopf- oder Bauchschmerzen nach dem Essen oder Müdigkeit begleiten sie ebenfalls oft.

Lichtblicke

Nach einigen Wochen steht die zweite Serie Chemotherapie an. Auch dieses Mal gibt sich Andrea S. Müller voll und ganz den Behandlungen hin: «Immer wieder habe ich mir selbst gesagt ‹Schmerz gehört zum Leben, Leiden ist optional.›» Während vieler Stunden übt sie sich darin, ihre innere Haltung zu bewahren: Jeden Moment akzeptieren und annehmen, sei er auch noch so schwierig, widerlich und schmerzhaft. «Hingabe in jedem Moment mit Fokus auf die Genesung – das ist ein wichtiger und hilfreicher Schlüssel, all die herausfordernden Stunden durchzustehen.» Schliesslich ist auch die letzte Chemotherapie vorbei. Zwei Wochen nach der Reha wird Andrea S. Müller zum ersten Mal Grossmutter. «Es ist extrem viel geschehen, auch viele schöne Dinge. Dadurch wurde mir klar: Das Leben geht weiter.»

Neustart verzögert sich

Drei Jahre später tauscht sich Andrea S. Müller immer noch regelmässig mit ihrer Hausärztin aus. Zeit, Geduld und Zuversicht sind verlangt, denn trotz der Genesung spürt sie körperlich und psychisch ein Ungleichgewicht. «Damit kann ich aber umgehen», erklärt sie. Vielmehr belastet sie heute ihre finanzielle Situation: Durch die Folgen der Krankheit ist es ihr nicht möglich, in gleichem Umfang zu arbeiten wie zuvor. Seit April 2022 wartet sie auf das Gutachten der Invalidenversicherung (IV), die überlastet ist. In der Zwischenzeit sind ihre Krankentaggelder und die Taggelder der Arbeitslosenkasse ausgeschöpft. «Die Situation ist sehr belastend für mich.» Doch Andrea S. Müller gibt nicht auf und sucht auf eigene Initiative eine Arbeitsstelle. So arbeitet sie seit Anfang Dezember 2022 in einem 20-Prozent-Pensum bei einem Architekturbüro. Weil dieser Verdienst aber nicht reicht, wird sie ohne IV bald von ihrem Ersparten leben müssen. «Immerhin bin ich gesund und kann mich nach wie vor auf meinen Lebenspartner, die Familie und mein soziales Umfeld verlassen.»

Andrea S. Müller ist gerne bereit, ihre Erfahrungen mit Menschen mit (Magen-)Krebs zu teilen und auszutauschen. Kontaktieren Sie uns dazu hier.